Bildschirm und Hirnreifung
In diesem Beitrag stelle ich eine aktuelle Studie zu einem Thema vor, das ich auch schon im Buch kritisch beleuchtet habe: Die Wirkung des Bildschirms und dessen Inhalten auf die kindliche Entwicklung. Die Studie zeigt handfeste Zusammenhänge auf, die nach Konsequenzen rufen.
Bildschirmbasierte Medien stehen in Zusammenhang mit strukturellen Unterschieden in den Gehirnen von Kleinkindern.
Erstveröffentlichung im Original:
4. November 2019
Quelle:
Cincinnati Kinderkrankenhaus, Medizinisches Zentrum (Link s.u.)
Zusammenfassung:
Eine neue Studie dokumentiert strukturelle Unterschiede in den Gehirnen von Vorschulkindern, welche mit der bildschirmbasierten Mediennutzung im Zusammenhang stehen.
Lesedauer: 4 Minuten
Was macht Bildschirmzeit mit dem Gehirn von kleinen Kindern?
Eine neue Studie dokumentiert einen Zusammehang zwischen der bildschirmbasierten Mediennutzung und strukturellen Unterschieden in den Gehirnen von Vorschulkindern.
Die Studie wurde in der „JAMA Pediatrics“ veröffentlicht. Sie dokumentiert, dass die Integrität der weißen Substanz in den Gehirnen von Kindern, die mehr Zeit am Bildschirm verbringen, deutlich geringer ist. Insbesondere die Teile des Gehirns, die mit Sprache und erwachender Lese- und Schreibkompetenz im Zusammenhang stehen, sind betroffen.
Diese Kompetenzen umfassen Imaginations- und Ausführungsfunktionen im Prozess der mentalen Kontrolle und Selbstregulierung. Diese Kinder erzielten niedrigere Werte bei den sprachlichen, respektive Lese- und Schreibfähigkeiten.
Die Studie des „Cincinnati Children’s Hospital Medical Center“ erfasste die Bildschirmzeit in Anlehnung an die Empfehlungen der „American Academy of Pediatrics“ (AAP). Diese Empfehlungen berücksichtigen nicht nur die Zeit vor den Bildschirmen. Sie erfassen auch den Zugang zu Bildschirmen (einschließlich tragbarer Geräte) und Inhalten. Ausserdem, mit wem die Kinder zusammen waren, und wie sie interagieren, während sie Bildschirme betrachteten.
Ernsthafte Fragen
„Diese Studie wirft Fragen auf, ob nicht zumindest einige Aspekte der bildschirmbasierten Mediennutzung in der frühen Kindheit, vor allem während dieser kurzen, sensiblen und prägenden Phase der Gehirnentwicklung, suboptimale Impulse geben können“, sagt John Hutton, MD, Direktor des „Reading & Literacy Discovery Center“ am „Cincinnati Children’s“ und Hauptautor der Studie.
„Obwohl wir noch nicht feststellen können, ob die Bildschirmzeit diese strukturellen Veränderungen verursacht oder langfristige entwicklungsneurologische Risiken mit sich bringt, rechtfertigen diese Ergebnisse eine weitere Untersuchung, um zu verstehen, was sie bedeuten, und wie man dem Technologieeinsatz angemessene Grenzen setzt.“
Die Empfehlungen der amerikanischen Kinderärzte
Unter den AAP-Empfehlungen:
– Vermeiden Sie bei Kindern unter 18 Monaten die Verwendung anderer Bildschirmmedien als Video-Chatting. Eltern von Kindern im Alter von 18 bis 24 Monaten, die digitale Medien einführen wollen, sollten sich für ein hochwertiges Programm entscheiden. Sie sollten es mit ihren Kindern gemeinsam anschauen, damit diese verstehen, was sie sehen.
– Für Kinder im Alter von 2 bis 5 Jahren begrenzen Sie die Bildschirmnutzung auf maximal 1 Stunde pro Tag mit einem hochwertigen Programm. Eltern sollten die Medien mit Kindern zusammen ansehen. Sie sollten ihnen dabei helfen zu verstehen, was sie sehen, und wie sie das mit der Welt um sie herum in Verbindung bringen können.
– Bestimmen Sie gemeinsam medienfreie Zeiten, wie z.B. das Essen oder Fahrten, sowie medienfreie Orte zu Hause, wie z.B. das Schlafzimmer.
Untersuchung: Design und Vorgehen
Dr. Hutton’s Studie umfasste 47 gesunde Kinder – 27 Mädchen und 20 Jungen – zwischen 3 und 5 Jahren, sowie deren Eltern. Die Kinder absolvierten kognitive Standardtests, gefolgt von einem Diffusionstensor-MRT. Dieser liefert Schätzungen der Integrität der weißen Substanz im Gehirn.
Die Forscher gaben den Eltern ein 15-Punkte-Screening-Tool: den „ScreenQ“. Dieser Fragebogen bildet die Empfehlung der AAP zur Bildschirm-basierten Mediennutzung ab. Die ScreenQ-Werte wurden statistisch mit den kognitiven Testergebnissen und den MRI-Messungen assoziiert. Alter, Geschlecht und Haushaltseinkommen waren berücksichtigt.
Die wichtigsten Erkenntnisse
– Es zeigte sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen höheren ScreenQ-Werten und einer geringeren Ausdrucksfähigkeit. Auch die Fähigkeit, Objekte schnell zu benennen (Verarbeitungsgeschwindigkeit), sowie die erwachenden Lese- und Schreibfähigkeiten waren geringer ausgebildet.
– Höhere ScreenQ-Werte standen in direktem Zusammenhang mit einer geringeren Integrität der weißen Substanz des Gehirns. Dies insbesondere in jenen Bereichen, die mit sprachlicher Äußerungsfähigkeit und anderen Lese- und Schreibfähigkeiten in Zusammenhang stehen. Das wirkt sich insbesondere auf die Organisation und die Myelinisierung aus. (Das ist der Prozess der Bildung einer Myelinscheide um einen Nerv herum, damit sich die Nervenimpulse schneller fortpflanzen können.)
„Die bildschirmbasierte Mediennutzung ist weit verbreitet. Sie nimmt zuhause, in der Kinderbetreuung und der Schule immer mehr zu, und sie setzt in immer frühem Alter ein“, sagt Dr. Hutton. „Diese Ergebnisse verdeutlichen die Notwendigkeit, die Auswirkungen der Bildschirmzeit auf das Gehirn zu verstehen – ganz besonders in den Phasen der dynamischen Gehirnentwicklung während der frühen Kindheit – damit Anbieter, Gesetzgeber und Eltern gesunde Grenzen setzen können.“
Förderquelle:
Die Studie wurde durch einen „Procter Scholar Award“ der „Cincinnati Children’s Research Foundation“ finanziert. Die Forscher haben erklärt, dass keine finanziellen Interessenkonflikte im Zusammenhang mit der Studie bestehen.
Journal-Referenz:
- John S. Hutton, Jonathan Dudley, Tzipi Horowitz-Kraus, Tom DeWitt, Scott K. Holland: „Zusammenhänge zwischen bildschirmgestützter Mediennutzung und Hirnweißstoffintegrität bei Kindern im Vorschulalter“. JAMA Pediatrics, 2019; e193869 DOI: 10.1001/jamapediatrics.2019.3869
Matthias L. J. Kamber ist praktizierender Hypnosetherapeut HS NGH SBVH, Logopäde mit einen Master of Arts in Heilpädagogik und Sachbuchautor. In seinem Blog äussert er sich zu Bildungsthemen und konstruktiven Alternativen zum gegenwärtigen System. Sein Fokus gilt dabei in erster Linie den Lehrpersonen, welche die Schule von innen heraus transformieren müssen, um ihren Schülern ein menschlicheres, faireres Lernumfeld zu schaffen und ihnen ein erfolgreicheres Lernen ermöglichen zu können.
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