Der tägliche Murks mit den Schulnoten
„Niederschmetternd“
Die erste Note bei meinem neuen Mathelehrer am Gymnasium war eine niederschmetternde 1.8. Nichts hätte mich auf diesen Rückschlag vorbereiten können. Während meiner ganzen restlichen Gymnasialzeit konnte ich mich nicht mehr davon erholen. Mit einem Handstreich war mein ganzer Elan dahin und meine Motivation gebrochen. In jenem Augenblick verlor ich alle Hoffnung, dass ich die Mathematik durchdringen und wirklich verstehen könnte.
Es vergingen viele Jahre, bis ich an der Uni aus dem beiläufigen Statement eines Professor entnahm, dass jener Mathelehrer, genauso wie jeder andere Lehrer, der Noten vergibt, den mathematischen Sündenfall begangen hatte. Und zwar wieder und wieder. In dem Moment, als ich dies verstand, war der lähmende Bann seines Verdikts gebrochen. Seither traue ich mir auch in der Mathe wieder mehr zu.
Ein gesetzlose Praxis
Heute möchte ich mit einem kleinen, längst fälligen Statement eine etablierte Praxis grundsätzlich in Frage stellen: Schulnoten.
Obwohl es nach den Gesetzen der Mathematik gar nicht möglich ist, berechnen dennoch Lehrerinnen und Lehrer weltweit den Notendurchschnitt.
Das ist aber etwa gleich sinnvoll, wie wenn jemand sagen würde: „Ich kann fliegen, weil ich Lehrer bin. Du kannst es nicht, weil die Gravitation das nicht erlaubt. Ich aber darf trotzdem fliegen, weil ich nämlich Lehrer bin. Tja, das Leben ist ungerecht. Wenn Du ein Lehrer wirst, dann darfst auch Du fliegen. Oder wenigstens so tun als ob…„
Wenn es unter den wissenschaftlichen Disziplinen eine gibt, von der wir sagen können, dass sie Wahrheit (im Sinn von Gültigkeit) auszudrücken vermag, dann ist das wohl die Mathematik.
Wer behauptet, einen Notendurchschnitt berechnen zu können, hat entweder das Kapitel „Skalenniveaus“ übersprungen oder nicht genügend aufmerksam studiert und seine Bedeutung für die Schulnoten noch nicht verstanden.
Was hat das Kapitel „Skalenniveaus“ mit der Berechnung eines Notendurchschnitts zu tun? Warum soll die mathematisch unmöglich sein?
Schulnoten sind ihrer Natur gemäss ordinal skaliert. Im Wort „ordinal“ steckt der Begriff „Ordnung“. Und das ist, was eine Schulnote abzubilden vermag: eine Reihenfolge, eine Ordnung, oder anders ausgedrückt: „grösser als“ und „kleiner als“. Und was war’s denn auch schon. Mehr ist da nicht drin. That’s it.
Die Bedeutung der Skalenniveaus
Um einen Durchschnitt berechnen zu können, ist es zwingend notwendig, dass alle Werte der „Verhältnisskala“ entstammen.
Und was bedeutet das? Eine Ratio- oder Verhältnisskala ist dann gegeben, wenn a) ein absoluter Nullpunkt vorhanden ist, und b) wenn zwischen den einzelnen Schritten regelmäßige Abstände gegeben sind. Konkrete Beispiele hierfür sind etwa die „Zeitdauer“ oder die „Temperatur in Kelvin“.
Einzig die Ratio- oder Verhältnis-Skala erlaubt die Addition (summieren) und Division (teilen) ihrer Elemente, weil die Werte von der selben Art und Qualität sind.
Schulnoten erfüllen dieses Kriterium nicht. Sie sind aus mehreren Gründen ordinal skaliert.
Noten liegen ganze zwei Niveaus unter der Verhältnisskala: Zum Einen gibt es bei Schulnoten keinen absoluten Nullpunkt (die niedrigste Note ist eine 1), und ausserdem existieren keine gleichmäßigen Abstände. Wer das infrage Stellen möchte, kann das gerne tun. Bitte sich einfach vorher kurz in die Ausführungen zu vertiefen, die in meinem Buch ab Seite 68 ff zu finden sind. (Literaturangabe unten.)
An dieser Tatsache ändert weder die Unterrichtsstufe noch die Gehaltsklasse etwas. Ob jemand Mathematik an der Primarstufe, am Gymnasium oder an einer Universität unterrichtet, es gelten überall die selben mathematischen Gesetze.
Und selbst wenn es gesetzlich verankert wurde und von den Bildungsbehörden pflichtverordnet wird: Auch das ändert nichts an der Tatsache, dass der Mensch ohne Hilfsmittel nicht fliegen kann. Oder dass Schulnoten die Berechnung eines Durchschnitts nicht zulassen.
Tradition vs. Neuerung
Wie kann jemand an einem solchen Habakuk festhalten, wenn er das mal verstanden hat? Wirkt es dann nicht irgendwie seltsam, an dieser fragwürdigen Tradition festzuhalten oder sie gar zu verteidigen?
Wie können wir von den Schülern verlangen sich korrekt und rational zu verhalten, während wir ihnen gleichzeitig mit irgendwelchem phantasievollem Blendwerk kommen, um ihre Leistungen zu beurteilen – und dabei ganz nebenbei die Gesetze der Mathematik ignorieren? Wie überzeugend ist das denn?
Das Kapitel „Skalenniveaus“ ist so simpel, dass von einem Sekundarschüler locker verstanden werden kann. Damit ist es auch jeder Lehrerin und jedem Lehrer möglich, die Implikationen daraus zu berücksichtigen.
Jener Professor, dem ich diese Einsicht verdanke… er möchte sich mit diesem Statement natürlich nicht gerne aus dem Fenster lehnen. Wie alle andern ist auch er gesetzlich dazu verpflichtet, dieses falsche Spiel mitzuspielen.
Was meinst Du? Zeit für eine Neuerung? Es existieren ja genügend Alternativen, die viel zielführender sind als Noten.
Weiterführende Literatur:
Mehr zu den schädlichen Wirkungen von Schulnoten und anderer Lern- und Erfolgsbremsen in der Schule, sowie eine Reihe pragmatischer Anregungen zu Alternativen und konkreten Lösungsansätzen findest Du im Buch „PosiTeach – Die Vision des Gelingens. Unterricht mit Leichtigkeit“ (Novum 2017).
März 2019
Matthias L. J. Kamber ist praktizierender Hypnosetherapeut HS NGH SBVH, Logopäde mit einen Master of Arts in Heilpädagogik und Sachbuchautor. In seinem Blog äussert er sich zu Bildungsthemen und konstruktiven Alternativen zum gegenwärtigen System. Sein Fokus gilt dabei in erster Linie den Lehrpersonen, welche die Schule von innen heraus transformieren müssen, um ihren Schülern ein menschlicheres, faireres Lernumfeld zu schaffen und ihnen ein erfolgreicheres Lernen ermöglichen zu können.
Copyright 2019 by PosiTeach. Bildquellen: pixabay.com und andere. Faire Nutzung: Diese Seite enthält womöglich urheberrechtlich geschütztes Material, dessen Verwendung nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsinhaber genehmigt wurde. PosiTeach.com nutzt und verbreitet dieses Material zum Zwecke der Bildungsforschung, des Kommentars und der Kritik, und dies stellt insofern eine faire Nutzung gemäß 17 U.S.C. § 107 dar. Bei Urheberrechtsfragen wenden Sie sich bitte an den Autor.